Kurzbericht: Lost in Perfection
Konferenz ‚Lost in Perfection‘ an der Universität Hamburg (9. Oktober 2015)
Am 9. Oktober 2015 fand an der Universität Hamburg die internationale, transdisziplinäre Tagung „‘Lost in Perfection‘. Folgen und Grenzen von Optimierung in Kultur und Psyche“ statt. Veranstaltet wurde sie von der Forschungsgruppe des APAS-Projekts – des Projekts zu ‚Aporien der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne. Gegenwärtiger kultureller Wandel von Selbstentwürfen, Beziehungsgestaltungen und Körperpraktiken‘, geleitet von Prof. Dr. Vera King (Sprecherin, Fak. 04 der Univ. Hamburg), von Prof. Dr. Benigna Gerisch (International Psychoanalytic Univ. Berlin) sowie von Prof. Dr. Hartmut Rosa (Allg. Soziologie, Univ. Jena), gefördert von der VolkswagenStiftung in der Förderlinie ‚Schlüsselthemen für Wissenschaft und Gesellschaft‘.
Die Veranstaltung stieß auf großes Interesse: Über 900 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus unterschiedlichen Fächern und Berufsgruppen nahmen teil an diesem Symposion, das im vollen Hörsaal Audimax stattfand.
Zunächst richteten Frau Prof. Dr. Susanne Rupp, Vizepräsidentin der Universität Hamburg, sowie Frau Prof. Dr. Eva Arnold, Dekanin der Fakultät für Erziehungswissenschaft, ihre Grußworte an das Publikum. Beide betonten die Aktualität und Bedeutung des Themas auch in Bezug auf Optimierungsanforderungen in der Wissenschaft, in Forschung und Bildung. Anschließend führte die Veranstalterin Prof. Dr. Vera King im Namen des APAS-Projektteams in das Thema der Tagung ein. Zwar sei eine Ausrichtung an Idealen der Vervollkommnung ein bekanntes Thema in der Menschheits- und Kulturgeschichte, in der flexibilisierten und beschleunigten Moderne nehme allerdings die Tendenz zu, dass eine angesteuerte Perfektion stets aufs Neue überschritten werde. Daran anknüpfend warf sie einige für die Tagung leitende Fragen auf: Wie lassen sich in diesem Sinne die Folgen und Grenzen von Optimierung bestimmen? Unter welchen Bedingungen schlägt das Streben nach Vervollkommnung in gegenläufige, zerstörerische Entwicklungen um? In welchem Verhältnis stehen Destruktivität und Anpassung sowie Pathologie und Normalität?
Vor diesem Hintergrund befasste sich der erste Vortrag von Alain Ehrenberg (CNRS, Paris), moderiert von Diana Lindner, mit der Zunahme von sozialen Pathologien im Zusammenhang mit Optimierungsanforderungen. In seinem Vortrag „Die beiden Bedeutungen des Begriffs Sozialpathologie – zur Anthropologie des Unglücks in individualistischen Gesellschaften“ analysierte er, wie „Störungen der psychischen Gesundheit“ (Depression, Sucht, ADHS u. a.) an einen sozialen und politischen Hintergrund gebunden seien. Pathologien seien in diesem Sinne nicht nur ein jeweils individuelles Problem, sondern seien auch auf soziale Verhältnisse sowie die diesen zugrunde liegenden Werte und Normen zurückzuführen. Zwar seien Individuen von den Störungsbildern betroffen, in ihnen manifestiere sich jedoch zugleich ein „gesellschaftliches Übel“, das sozialer und soziopolitischer Natur sei. Ehrenberg entwickelte die These, dass im Bereich der „psychischen Gesundheit“ auch jeweils das Verhältnis von individuellem Leid und sozialen Beziehungen verhandelt werden müsse.
Im Anschluss beschäftigte sich die französische Wirtschaftssoziologin Ève Chiapello (EHESS, Paris), mit spezifischen Optimierungsformen im gegenwärtigen Finanzkapitalismus. Der Vortrag „Optimierung im Kontext von Finanzialisierung“, moderiert von Niels Uhlendorf, ging im Kern davon aus, dass die gegenwärtige Phase des Kapitalismus durch eine Ausdehnung von Finanzmarktlogiken auf immer neue Lebensbereiche charakterisiert sei. In diesem Kontext entstehe eine besondere Form von Optimierung, welche auf kalkulative Methoden der Finanzökonomie zurückgreife. Dies vollziehe sich im Sinne von „Investments“, die Erträge erzielen sollen, was wiederum nahelegen würde, nur in jene Projekte zu investieren, die auch hohe Erträge versprechen. Zu beobachten sei die Entwicklung neuer metrischer Erhebungsinstrumente, die eine Ausdehnung des Profitdenkens auch auf Bereiche jenseits des rein Ökonomischen zur Folge haben, was auch die „Kolonisierung unseres Psychischen“ beinhalte. So würden Individuen zum Beispiel Handlungen unterlassen, wenn ihre Resultate im Verhältnis zur Investition als nicht profitabel angesehen werden. Diese Situation sei Teil der jüngsten Entwicklungen einer projektbasierten Gesellschaft und gehe mit der Aufforderung an Individuen einher, nicht nur Unternehmer ihrer selbst zu werden, sondern den Wert der eigenen Person stets nachzuweisen, sich selbst also als Humankapital zu gestalten.
Anschließend begrüßte das Veranstaltungsteam den Soziologen Heinz Bude (Univ. Kassel), der Optimierungstendenzen der gegenwärtigen Moderne an die Frage der Angst koppelte. In dem Vortrag „Angst als Schlüssel zum Sinn des Ganzen“, moderiert von Julia Schreiber, zeichnete er zunächst soziale Transformationen der letzten Dekaden nach (i. B. Individualisierung, Flexibilisierung, Verlust von Integrationsmodi, Verlust von Reziprozitätsversprechen) und diagnostizierte in diesem Zusammenhang einen Verlust an Sinnressourcen auf den unterschiedlichsten Ebenen. Bei der übergreifenden Sinnfrage helfe es dabei, das Phänomen der Angst genauer in den Blick zu nehmen. Angst sei Ausdruck einer Existenz, die sich vor ihrer eigenen Unbestimmtheit und Richtungslosigkeit fürchte. Die Stimmung der Angst ermögliche die Erfahrung von Ganzheit der Welt, weshalb sie für die Beantwortung der Frage nach „dem Sinn des Ganzen“ bedeutsam werde.
Die Tagung wurde fortgesetzt mit dem Vortrag „Intimität und Selbst – vom Verblassen zweier Fluchtpunkte am Horizont“ von Eva Illouz (Hebrew University Jerusalem), moderiert von Benedikt Salfeld-Nebgen. Die Perfektionierung des Selbst lasse sich am deutlichsten im Bereich der Initimität aufzeigen. Denn Intimität mache die permanente und aufmerksame subjektive Selbst- und Fremdbeobachtung erforderlich. In diesem Zusammenhang griff Illouz den Titel der Tagung „Lost in Perfection“ im Sinne eines Strebens danach auf, eine Situation zu verbessern, die fortlaufend „noch nicht gut genug“ sei. Der Vortrag fokussierte in diesem Zusammenhang auf verschiedene Formen der damit einhergehenden Selbst-Beobachtung und -Bewertung. Dabei seien Marktlogiken in unterschiedliche Bereiche des Lebens mit einbezogen und beeinflussten das Selbstkonzept von Individuen.
„Optimierte Körper – Todesabwehr im Kontext von Schönheitsmedizin“ nahm Ada Borkenhagen (Univ.-Klinikum Leipzig) in den Blick. In ihrem Vortrag, moderiert von Theresa Vos, legte Borkenhagen anhand empirischer Analysen dar, dass Selbstdesign und Körperoptimierung in vielfacher Weise als Trend seit einigen Jahren zunehmen würden. Profitable Zukunftsmärkte seien vor allem Intim-Operationen und die Professionalisierung des sog. Bodytunings. In diesem Sinne sei Körperoptimierung zum Heilsversprechen des 21. Jahrhunderts avanciert und insbesondere das Heilsversprechen ewiger Jugend und der Überwindung des Todes werde von der Schönheitsmedizin gezielt in Szene gesetzt. Am Beispiel von Smartphone-Apps zeigte Borkenhagen auf, wie die kontinuierliche Arbeit am Körper im Dienste der Schönheit inszeniert werde.
Im letzten Vortrag „‘Es gibt viel Fortschritt, aber das heißt nicht, dass es besser wird‘. Widersprüche der Perfektionierung in der beschleunigten Moderne“ wurde von Vera King, Benigna Gerisch und Hartmut Rosa (Univ. Hamburg, IPU Berlin, FSU Jena) das Forschungsprojekt APAS mit ersten ausgewählten Ergebnissen vorgestellt. In verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen und in der individuellen Lebenspraxis entstünden vielfältige Optimierungszwänge und neuartige Perfektionierungsbestrebungen. So wirke sich der Druck zur steten Verbesserung und Effizienzsteigerung nicht nur in Beruf und Bildung aus, sondern auch in der Familie, in Eltern-Kind- und Paarbeziehungen, im Verhältnis zu Körper und Selbst, sowohl im Öffentlichen als auch im Privaten. Von besonderem Interesse seien hierbei die Wechselbeziehungen zwischen Kultur und Psyche sowie die Verschiebungen im Verständnis von ‚Pathologie‘ und ‚Normalität‘. Im Vortrag wurden somit psychische und soziale Bedingungen und Folgen sowie auch Widersprüche und Risiken von Optimierung beschrieben. Es habe sich in der Studie herausgestellt, dass Optimierungsdruck im Kontext einer Priorisierung von Wettbewerbslogiken zu Bindungsverlusten führe und individuelle wie auch soziale Ressourcen zu unterhöhlen drohe. Passförmige biografische Muster würden dabei verstärkt, nicht-passförmige hingegen destabilisiert. Typisierbare Varianten optimierter Lebensführung, die in diesem Zusammenhang vorgestellt wurden, seien dabei Folge gesellschaftlicher Bedingungen wie auch spezifischer psychischer Verarbeitungsformen.
Schließlich fand eine von Diana Lindner moderierte Podiumsdiskussion statt, an der neben allen Referentinnen und Referenten auch Prof. Dr. Hans-Christoph Koller (Univ. Hamburg) teilnahm. Koller eröffnete dem Publikum eine weitere, bildungstheoretische Perspektive auf das Phänomen der Optimierung und rückte die Frage in den Fokus, ob das Konzept der Bildung als ein Gegenkonzept zum Perfektionierungsimperativ verstanden werden könne oder ob Bildung selbst Teil dieses Imperativs sei. Einerseits könne in der Entwicklungsoffenheit von Bildung ein Gegenpotenzial liegen, andererseits bestehe die Gefahr, dass Bildung immer auch von Optimierungszwängen und destruktiven Potenzialen geprägt werde. Im Anschluss wurden verschiedene Fragen zu gegenwärtigen Arbeitsbedingungen und ihren Steigerungslogiken, zu Optimierungsanforderungen in Erziehungsinstitutionen sowie zum Begriff der Optimierung vom Plenum thematisiert. Erörtert wurde auch das Verhältnis von Psychologie, Psychoanalyse, Sozial- und Bildungswissenschaften bei der Erforschung und Theoretisierung gesellschaftlicher Entwicklungen sowie der individuellen Verarbeitung von Optimierungsanforderungen und ihrer Folgen in Generationenbeziehungen.
Ein ausführliches Schlusswort von Prof. Dr. Benigna Gerisch und ihre Danksagungen an all jene, die die Tagung ermöglicht und unterstützt hatten, rundeten die Tagung ab. Der Dank für die finanzielle Förderung der Veranstaltung richtete sich dabei an die Universität Hamburg, an das Dekanat der Fakultät Erziehungswissenschaft und im Besonderen an die VolkswagenStiftung.